Erschreckend in einem reichen Land wie Deutschland / EU-Mitgliedstaaten sollen gemeinsam Zuverlässigkeit der Lieferungen und Produktion in der EU honorieren / Erfahrung in der Kinderklinik Paderborn / Gespräch mit Experten aus der Region


„Die Situation ist dramatisch. Es ist eine Schande, dass in einem reichen Land wie Deutschland wichtige Medikamente für Kinder, aber auch Krebsmedikamente, Antidepressiva und Herzmedikamente nicht verfügbar sind“, so schilderte der Dr.  med. Peter Liese, die Situation. Peter Liese hatte selbst bei seinem Arbeitseinsatz in der Kinderklinik Anfang des Jahres gesehen, welche konkreten Auswirkungen der Arzneimittelmangel hat. „Wir hatten Kinder auf der Station, die nur deshalb ins Krankenhaus mussten, weil ein Antibiotikum nicht als Saft verfügbar war und sie deshalb für Infusionen mehrere Tage im Krankenhaus liegen mussten. Und das bei ohnehin überlasteten Pflegepersonal“, so Liese.

Liese bemüht sich schon seit Jahren um eine Lösung des Problems auch auf europäischer Ebene. Unter anderem der frühere Präsident des Weltärztebundes, Dr. Frank Ulrich Montgomery und der Vizepräsident des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, Dr. Richard Ammer, Geschäftsführer der Firma MEDICE Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG in Iserlohn, hatten ihn darauf hingewiesen. Deswegen hat er bereits in 2019 im zuständigen Ausschuss für Umwelt und Gesundheit des Europäischen Parlamentes verlangt, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen und systematisch an einer Lösung zu arbeiten. „Ich war ziemlich schockiert, als meine Kolleginnen und Kollegen damals sagten, wir hätten für so etwas keine Zeit, weil wir uns um den Green Deal (ein großes Klimaschutz- und Umweltprogramm von Präsidentin Ursula von der Leyen) kümmern müssen. Ich unterstütze den Green Deal, insbesondere die Klimaschutzmaßnahmen, aber es kann nicht sein, dass wir dadurch die gesundheitliche Versorgung als weniger wichtig ansehen.“

 
Mittlerweile hat Liese erreicht, dass das Thema in Brüssel behandelt wird: „Ich bedaure, dass das zu spät geschehen ist. Eine Lösung kann leider nicht kurzfristig erfolgen. Das Europäische Parlament hat nach Verzögerung, Vorschläge die ich im Namen meiner Fraktion gemacht habe, aufgegriffen. Wichtig ist, dass jetzt sowohl in der Europäischen Kommission als auch im Ministerrat die Vorschläge, die wir als Christdemokraten im Parlament gemacht haben, aufgenommen werden. Die Europäische Kommission hat kürzlich einen Vorschlag gemacht, nach welchem Arzneimittelhersteller sich um die Zuverlässigkeit ihrer Lieferkette kümmern müssen. Zusätzlich soll eine Liste mit lebenswichtigen Medikamenten erstellt werden und gegebenenfalls Bevorratung angeordnet werden.

Im Ministerrat kursiert ein Papier zu dem Thema, das Belgien federführend mit vielen Mitgliedstaaten verfasst hat. Das Papier verlangt unter anderem einen „Critical Medicine Act“, mit dem die Arzneimittelproduktion in Europa unterstützt werden soll.

Ich finde es gut, dass nachdem sich das Europäische Parlament schon auf mein Drängen hin vor einiger Zeit zu dem Thema positioniert hat, jetzt auch Kommission und Mitgliedstaaten an dem Thema arbeiten, aber ich bedauere, dass es zu spät ist. Vor allen Dingen wird in der Kommission und im Rat die Wurzel des Problems nicht angepackt. Es ist nämlich die Billig-Mentalität in vielen Mitgliedstaaten. In der Vergangenheit zählte „nicht Gesundheit zuerst“, sondern „billig zuerst“. Das hat dazu geführt, dass bei den Ausschreibungen auf jeden Cent hinter dem Komma geachtet wurde, aber nicht auf Qualität und Zuverlässigkeit. Ich habe selbst als Arzt in einer Landarztpraxis erlebt, dass man wegen zwei oder drei Cent Preisunterschied telefonieren musste, um die Erlaubnis zu bekommen, ein Antibiotikum zu verschreiben. Dies hat dazu geführt, dass die Hersteller vor allen Dingen in China und Indien produzieren. Wir müssen dies ändern“, erklärte Liese.

„Wir brauchen in möglichst allen europäischen Mitgliedstaaten Ausschreibungen, die nicht nur auf den Preis, sondern auch auf die Zuverlässigkeit der Lieferung achten und wir sollten auch zur Auflage machen, dass zumindest ein Teil der Produktion in der Europäischen Union oder in Nachbarländern passiert, die zuverlässig liefern können. Wir prüfen gerade, ob dies rechtlich möglich ist. Politisch kann das aber Bundesgesundheitsminister Lauterbach jederzeit mit seinen Partnern aus den anderen Ländern vereinbaren. Rein nationale Lösungen werden nicht dazu führen, dass wieder mehr in Europa produziert wird“, so der Arzt und Europaabgeordnete.

„Für mich war das Problem schon viel länger bekannt. Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft hat schon vor zehn Jahren das erste Mal davor gewarnt. Damals ging es um ein Krebsmedikament, dass weltweit nicht mehr erhältlich war. Es kann nicht sein, dass wir auf Dauer von Produktionsstandorten in China und Indien abhängig sind, die ausschließlich unter ökonomischen Aspekten produzieren und dabei die Grundversorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Medikamenten nicht ausreichend beachten“, betonte Prof. Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Vorstandes des Weltärztebundes.

„Die Macht der Kassen und deren Ausschreibungen sorgen dafür, dass ausschließlich der Preis als einziges Vergabe-Kriterium gilt. Somit können wir mit wahrem „Made in Europe“ nicht mit den Billig-Angeboten fernöstlicher Hersteller konkurrieren, haben im Ein-Partner-Modell mehrere Jahre keinen Marktzugang und sehen daher keine neuen Anbieter“, erläuterte Dr. med. Dr. oec. Richard Ammer, geschäftsführender Inhaber MEDICE Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG Iserlohn und stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI).

„Wir müssen Medikamente einsetzen, die gar nicht für Kinder zugelassen sind. Hier muss dringend etwas passieren. Aktuell fehlen bei uns im klinischen Alltag vor allem Medikamente gegen Schmerzen und gegen Fieber und ganz besonders Antibiotika in kindgerechter Dosierung“, berichtete Dr. med. Friedrich Ebinger, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des St. Vincenz-Krankenhauses Paderborn.

„Die Problematik knapper oder fehlender Arzneimittel für den Bedarf der Kliniken besteht grundsätzlich schon seit etwa zehn Jahren, hat sich zuletzt aber dramatisch verschärft. Betroffen sind vor allem die Anwendungsgebiete Schmerz, Fieber und bakterielle Infektionen, also Antibiotika“, so Martin Bochen, Apotheker für Klinische Pharmazie am St. Vincenz-Kliniken Paderborn.

„Lieferschwierigkeiten kennen wir seit mehreren Jahren. Die aktuellen Erkältungswellen haben dazu geführt, dass selbst Nasenspray oder sogar Erkältungssalben nicht mehr lieferbar waren. Die Lieferfähigkeit ist katastrophal über alle Produktbereiche“, verdeutlichte Dominik Mörchen, Apotheker aus Meschede.