Gefahr der Überlastung des Gesundheitswesens keinesfalls gebannt / Unbedingt schneller impfen / Exportrestriktionen der Kommission richtig, wenn sie früher gekommen wären, wäre Situation jetzt besser / Offene Grenzen wünschenswert, aber jetzige Situation nicht akzeptabel


„Wir sollten die Gefahr durch die neuen Varianten des Coronavirus auf keinen Fall unterschätzen“, dies erklärte der gesundheitspolitische Sprecher der größten Fraktion im Europäischen Parlament (EVP, Christdemokraten), Dr. med. Peter Liese am Mittwoch vor Journalisten in Brüssel. „Zwar kann ich nicht jede Maßnahme, die die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin am Dienstagmorgen beschlossen haben, im Detail nachvollziehen oder gar erklären. Dass es aus europarechtlichen Gründen nicht möglich ist, Reisen nach Mallorca einzugrenzen, halte ich für falsch, denn immerhin dürfen Spanier selbst nicht nach Mallorca und Belgien hat ein allgemeines Verbot für nicht-notwendige Reisen.

Auch einzelne andere Details erschließen sich mir nicht. Trotzdem ist es notwendig, weiterhin vorsichtig zu sein und sich an die Regeln zu halten. Das Gerede, dass man nicht allein auf den Inzidenzwert achten soll, sondern auch andere Dinge in Betracht ziehen soll, ist gefährlich. Zurzeit führen in allen EU-Ländern hohe Inzidenzwerte auch immer noch zu starker Belegung der Krankenhäuser und auch steigenden Todeszahlen. Ich habe vielleicht aus Sicht mancher zu schwarz gemalt, was die Gefährlichkeit der Erkrankung angeht. Unter dem Strich muss ich sagen, dass ich immer noch zu optimistisch war. Ich hätte im Herbst niemals erwartet, dass es so eine schlimme zweite Welle gibt und dass wir jetzt auch noch in eine dramatische dritte Welle laufen.

Das Coronavirus ist noch gefährlicher, als ich es eingeschätzt habe. Umso schlimmer, dass nicht schnell genug geimpft wird“, so Liese. Um das Impftempo in Deutschland und der EU zu beschleunigen, schlägt Liese folgende konkrete Maßnahmen vor:

  1. „Ich bin sehr frustriert, dass es immer noch keine Einigung gibt, die siebte Dosis von BioNTech zu nutzen, wann immer dies möglich ist. Jeder sucht Gründe, warum das nicht geht. Ich habe aber in der Praxis erlebt, dass es geht. Auch die elfte Dosis von Moderna muss so schnell wie möglich rechtssicher genutzt werden.

  2. Ich plädiere dafür, dass, wann immer möglich, Menschen ein Antikörpertest angeboten wird, bevor sie sich impfen lassen. Eine Veröffentlichung aus dem New England Journal of Medicine (https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2034545) zeigt, dass Menschen die Antikörper haben, nachdem sie die Krankheit mit oder ohne Symptome hatten, genauso gut geschützt sind wie nach einer Impfung. Es gibt Hinweise darauf, die auch EMA-Chefin Emer Cooke gestern im Ausschuss für Umwelt und Gesundheit bestätigt hat, dass die sehr seltene Nebenwirkung einer Sinusvenenthrombose nach AstraZeneca-Impfung eventuell mit Antikörpern zusammenhängt, die man schon vor der Impfung durch eine symptomatische oder asymptomatische Infektion hatte.

  3. Vertreter aus den Mitgliedstaaten sollten die EU nicht für eigene Fehler verantwortlich machen. Dass einige Mitgliedstaaten wenig Impfstoff bei BioNTech und Moderna bestellt haben, darf nicht zum Schaden anderer sein. Gerade die deutsche Bundesregierung hat immer an BioNTech geglaubt und sich auch zu einem Zeitpunkt bereit erklärt sehr viel BioNTech-Impfstoff zu kaufen, als viele andere noch sehr skeptisch waren. Im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland müssen wir dieses Kontingent jetzt nutzen. Wenn die Impfkampagne richtig läuft sollten natürlich Kompromisse gefunden werden und diejenigen Mitgliedstaaten, die jetzt unter den Kürzungen von AstraZeneca leiden, unterstützt werden. Kurzfristig ist das aber nicht vertretbar.

  4. Ich bin für eine ergebnisoffene Prüfung des russischen Impfstoff Sputnik. Es war aus meiner Sicht falsch von Kommissar Breton, Sputnik als Teil der europäischen Impfstrategie praktisch auszuschließen. Im Moment habe ich noch sehr viele Fragezeichen, aber ich halte eine Zulassung für möglich und wenn die EMA die Zulassung gibt, sollten wir vorher gefragt haben, wie viel Impfstoff der russische Staatsfond RDIF liefern kann. Ich glaube keinesfalls, dass Sputnik der Gamechanger wird, aber vielleicht hilft ein kleines Kontingent nach sorgfältiger Prüfung dafür, dass Millionen Europäer schneller geimpft werden können.

  5. Wir brauchen kurzfristig harte Bandagen gegenüber Drittstaaten und mittelfristig mehr Kooperation. Es ist richtig, dass die Kommission jetzt konkrete Verschärfungen der Exportregelungen vorgeschlagen hat. Proportionalität und Reziprozität müssen stärker als bisher eingehalten werden. Ich finde, es ist höchste Zeit und wenn die Regeln schon im Januar gegolten hätten, hätten mittlerweile schon mehr Menschen in der EU geimpft werden können. Auch die Meldungen über das AstraZeneca Lager in Italien machen mich sprachlos. Sollten diese stimmen, zeigt dies, dass Exportbeschränkungen nötig sind. AstraZeneca sollte das schleunigst aufklären, da sonst eine ganze Industrie am Pranger steht. Generell haben Exportverbote natürlich auch Nachteile und bringen Gefahren mit sich, aber bisher sind leider Großbritannien und die USA, die quasi Exportverbote haben, wie auch immer die rechtliche Konstruktion aussieht, besser gefahren. Ich wünsche mir eine bessere Kooperation, aber solange dies nicht wirklich passiert, muss Europa seine Exporte besser kontrollieren und auch stärker begrenzen. Dies ist nicht der bestmögliche Weg, aber die jetzige Situation ist schlicht unerträglich. Mittelfristig brauchen wir mehr Kooperation: Gemeinsam mit den USA müssen wir dafür sorgen, dass auch Impfstoff in Drittstaaten hergestellt werden kann und die EU sich auch finanziell engagieren“, so der Arzt und Europaabgeordnete.